Geisterstadt und Elfen

Ich bin leicht verwundert, als ich gegen 11 Uhr auf die Uhr schaue. Warum die Vorhänge meines kleinen Zimmers zugezogen sind weiß ich auch nicht genau. Ich drehe mich wieder auf den Rücken, schließe noch einmal meine Augen und versuche mich an gestern Abend zu erinnern. Glücklicherweise stelle ich fest, dass ich gar nicht so betrunken war, wahrscheinlich einfach nur hundemüde. Das verwundert mich jedoch nicht. Mein gestriger Tag zeichnete sich nicht nur durch guten Wein und Pizza aus, nein. Viel ausschlaggebender ist die Tatsache, dass mich meine  Eindrücke, das Meer, die frische Luft, die Bewegung und Unterhaltungen mit einem neu gewonnenen Freund völlig vereinnahmt haben. Auf eine gute Art und Weise. Ich öffne meine Augen, stehe auf, ziehe die Vorhänge auseinander und genieße für einen kurzen Moment, wie mir die Sonne ins Gesicht scheint und meine Haut erwärmt.

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Der Beschluss, heute eher einen ruhigen Tag einzulegen, kommt mir während ich meine Sachen packe und feststelle, dass mein Entdeckungsdrang nicht annähernd so ausgeprägt ist, wie die letzten Tage. Nicht schlimm. Der Strand ist zu Fuß nur fünfzehn Minuten entfernt, bis dahin werde ich es wohl noch schaffen.

Als ich die Zimmertür hinter mir abschließe und meinem Vermieter nur ein kurzes „Ciao“ zu rufe, der im Wohnzimmer sitzt und Nachrichten schaut, stelle ich fest, dass es draußen zu Regnen begonnen hat. Einen Augenblick halte ich inne, atme die frische Luft ein und entscheide mich dafür meinen Tag so fortzusetzen, wie ich ihn mir vorgestellt habe. So schnell wie sich das Wetter hier ändert, scheint in einer halben Stunde wieder die Sonne.

Meine Kopfhörer setze ich diesmal nicht auf, lieber höre ich dem Regen zu, wie er sanft auf den Asphalt trifft. Auf den menschenleeren Straßen werfen mir ein paar Hunde vom Straßenrand gelangweilte Blicke zu.  Der Regen hat anscheinend auch sie besänftigt, da ihr ständiges Bellen heute ausbleibt.

Traurig erinnere ich mich an Ricardo. Seinen letzten Worten möchte ich noch immer keinen Glauben schenken. „Wir werden uns nicht wiedersehen.“

Ich wusste schon immer, dass Feen und Elfen unter uns leben, trotzdem war ich verwundert, als ich Ricardo begegnete. Seine Größe entsprach gerade mal der meines rechten Daumennagels. Seine Flügel schimmerten grünlich in der Sonne und beim Fliegen ertönte leise Musik. Meist Bach, wie ich im Laufe des Tages feststellte. Die wuscheligen dunkelblonden Haare waren weich wie Samt und sein markantes Gesicht strotzte nur so vor Freundlichkeit. Ich traf ihn auf dem Weg zur verlassenen Burg, er saß am Wegesrand und unterhielt sich mit Ameisen. Fast hätte ich ihn übersehen, wenn die Sonne nicht im perfekten Winkel auf seine Flügel gestrahlt und die prächtigen Farben reflektiert hätte. Nicht eine Sekunde versuchte er sich zu verstecken oder abzuhauen. Er schaute mich mit einem breiten Lächeln an, reichte mir seine Hand und sagte: „Hallo ich heiße Ricardo, und wer bist du?“ „Lisa.“ War das einzige, was ich verstört von mir gab.

Ich unterbreche meine Gedanken,  als ich vor dem geschlossenen Supermarkt stehe. Nebensaison in Italien. Immerhin kann ich beim Bäcker nebenan ein bisschen Brot kaufen. Ein paar Tomaten habe ich noch im Rucksack, somit steht zumindest einem Frühstück nichts im Wege. Hoffentlich ist der aufmerksame, ältere Herr mit seiner Frittenbude wieder am Strand und rettet mich vor meiner Unterzuckerung, die später garantiert eintreten wird.

„Es freut mich dich kennen zu lernen.“ sang der kleine Elfenmann mir förmlich ins Ohr. „Gestern bist du an mir vorbei gelaufen, aber das ist nicht weiter schlimm, den meisten Menschen passiert das.“ „Wirklich?“ eine richtige Unterhaltung brachte ich immer noch nicht zustande. „Ja. So verträumt, wie du durch die Gegend gelaufen bist, ist das aber kein Wunder. Komm, ich begleite dich auf dem Weg zur verlassenen Burg dort oben auf dem Hügel, dort wolltest du sicherlich hin, oder?“ „Ja, genau.“ brachte ich stotternd hervor. Schweigend machten wir uns auf den Weg. Es war keine unangenehme Stille die uns begleitete, jedoch brauchte ich ein paar Minuten, bis ich mich an Ricardos Anwesenheit gewöhnt hatte.

Ich erreiche die lange Straße zum Meer, der Wind vertreibt die Wolkendecke und die Sonne kommt wieder zum Vorschein. Noch immer ist keine Menschenseele zu sehen, somit beschließe ich ein Stück auf der unbefahrenen Straße zu laufen. Meine Blicke erkunden die mittlerweile vertraute Gegend. Tag für Tag fangen die Blüten der Pflanzen an, sich ein Stück mehr zu öffnen. Das saftige Grün der Bäume verdeckt die teils verfallenen Häuserwände und Zäune. Ein wirklich schöner Ort.

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Genau dieser Gedanke war das Erste, was ich zu Ricardo sagte, als wir die Ruine erreichten. „Schön ist es hier.“ „Das finde ich auch, was treibt dich an einen verlassenen Ort wie diesen?“ „Das weiß ich nicht genau, definitiv Ruhe und Meer.“ Wir unterhielten uns weiter über die Natur die uns umgab, über Pizza, leckeren Wein, Eis und Bier. „Komm, ich zeige dir einen Ort, der zu dieser Zeit wirklich unheimlich sein kann, wenn du willst.“ „Klar.“ Schweigend verließen wir also die Hügelspitze und machten uns auf den Weg Richtung Strand.  „Jetzt links. Dort zwischen den zwei Palmen hindurch.“ flüsterte er mir ins Ohr, als er sich im Schatten auf meiner Schulter niederließ. Ich schaute mich um,  um sicher zu gehen, dass uns niemand beobachtet.

Kopfschüttelnd halte ich inne. Ich denke darüber nach, dass mir wohl niemand glauben wird, was gestern passiert ist. Für eine Sekunde zweifle auch ich an dem Wahrheitsgehalt der Begegnung, schnell verwerfe ich diesen Gedanken jedoch. Der Sand unter meinen Füßen ist nass und kalt. Ich streife mir meine Kapuze über und fange an, den Strand entlang zu spazieren. Noch ist die Temperatur kühl vom Regen. Ob die Imbissbude offen ist habe ich gar nicht wahrgenommen, so gedankenversunken lasse ich den gestrigen Tag vor meinem inneren Auge vorbeiziehen.

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„Das ist Tanka Village.“ Ich blickte auf einen riesigen verlassenen Pool, gefüllt mit grünem Wasser und zwei darin schwimmenden Enten. Dahinter waren große Ferienanlagen zu sehen. Alles war verlassen und leer. Ricardo stelle sich hin und schlug mir vor, dass er mir das Resort ein wenig zeigt. Wir liefen, beziehungsweise: er flog, an leerstehenden Bungalows vorbei, an Tiefgaragen in denen Kayaks und kleine Boote gelagert wurden. „Wie groß ist die Anlage denn?“ fragte ich, immer noch perplex. „Laut meinen Berechnungen zirka 40 Hektar. Eine Golfanlage und Pferde gehören ebenfalls dazu.  Ohne Menschen ist es hier wesentlich schöner als mit kann ich dir sagen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie im Hochsommer alle Reihe an Reihe am Strand liegen, laut Musik hören und sich voll fressen.“ Da hatte er recht. So unheimlich es hier auch war – voll, laut und hektisch, möchte ich es nicht erleben. Mindestens zwei Stunden verbrachten wir in der Geisterstadt, als es schon anfing zu Dämmern. „Du hast Hunger.  Ich führe dich noch an einen letzten Ort. Mein Lieblingsrestaurant, doch dort muss ich mich verabschieden. Die Dunkelheit verbringe ich an einem anderen Ort, den du leider nicht mit mir erkunden kannst.“

Es sind bestimmt über zehn Minuten vergangen, als ich an einer kleinen Strandhütte ankomme. Immer noch leicht traurig setze ich mich in den Sand, hole meinen Tabak raus und drehe mir eine Zigarette. Genüßlich atme ich den Rauch ein und aus.

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Ich fragte nicht mal, aus welchem Grund er sich verabschieden musste. Mir war klar, dass er es mir erzählen würde, wenn er wollte. Er setzte sich wieder auf meine Schulter und summte ein Lied, welches mir bekannt vorkam, ich aber nicht direkt zuordnen konnte. „Soll ich einfach ins Zentrum laufen? Oder wo willst du hin?“ „In die Stadt klingt gut. Ich werde nicht bis zum Schluss mitkommen, gebe dir aber eine genaue Beschreibung von dem Ort.“ Wir unterhielten uns mal wieder über alltägliche Dinge, so als kannten wir einander schon über viele Jahre hinweg. Sein, für mich, lautes Lachen klang vertraut und war ansteckend. Der Mond wurde von Minute zu Minute klarer und auch die Sterne zeigten sich langsam. Als mein Magen anfing zu knurren, beschloß ich schneller zu laufen, auch wenn ich den Abschied am liebsten noch länger hinausgezögert hätte. „Sehen wir uns eigentlich wieder?“ fragte ich nach einer Weile. Ich wusste genau was er mir antworten würde, wollte jedoch sicher gehen. „Wir werden uns nicht wiedersehen.“

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Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich traurig sein sollte oder verstand, dass das Leben nun mal so ist. Seine Wegbeschreibung war so klar und eindeutig, wie all seine Antworten und Fragen zuvor. Selbst ich wusste ohne zu Zweifeln, welche Richtung ich einzuschlagen hatte. Am liebsten hätte ich Ricardo umarmt, doch das war reichlich schwierig. Also stellte er sich auf meine ausgestreckte Hand und ich hielt ihm meinen kleinen Finger hin, den er mit beiden Händen kräftig schüttelte. Wir lachten beide lauthals los und plötzlich war er verschwunden.

 

 

 

 

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